Es ist schwierig Kafkas „Verwandlung“ einer Buchkategorie zuzuordnen. Bei genauerer Betrachtung bietet das Buch verschiedene Facetten, welche durch seine Neuinterpretation als Grafic Novel ergänzt werden. Diese reichen von seiner recht offensichtlichen Absurdität über das Thema Menschlichkeit zu einem starken Realitätsbezug und nicht zuletzt einer düsteren Atmosphäre.
Um diese vier Aspekte anschließend erklären zu können, hier der Inhalt des Buches in Kurzform:
Der Unternehmensvertreter Gregor Samsa ist als Unternehmensvertreter für das finanzielle Überleben seiner Familie verantwortlich. Seine stressige Arbeit verlangt ihm einiges ab, allerdings geht er seiner Berufung aus Liebe zu seinen Eltern und seiner Schwester Greta tagtäglich nach. Welche Wichtigkeit dies für ihn eingenommen hat, zeigt sich auf den ersten Seiten. Als sich Gregor eines Morgens im Körper einer Insektengestalt wiederfindet und feststellen muss, dass er seine Zugverbindung verpasst hatte, ist sein erster Impuls die Wiedergutmachung seines Fehlers. Seine Schuldgefühle wachsen an, als ein Stellvertreter seines Arbeitgebers mit der Intention eine Mahnung auszusprechen, erscheint. Gregors Drang zur Berichtigung seiner Taten äußert sich, als er sich beim, in seinem Zimmer erschienenen Vertreter entschuldigt und ihn mit aller Kraft davon zu überzeugen versucht, dass er schnellstmöglich seinem Auftrag nachgehen werde. Weder der Vertreter noch Gregors Familienangehörige können ihn allerdings verstehen und ziehen sich, nach einer kurz anhaltenden Schockstarre, aus dem Zimmer zurück. Von seinem Vater erhält Gregor außerdem einen Hieb mit dem Besen. Der Vertreter sucht umgehend das Weite und Gregor fällt infolge seiner Verletzung, welche er sich durch den Schlag seines Vaters zugezogen hatte, in einen Schlaf, welcher den Beginn der Leidensphase für Familie Samsa bedeutet. Die Erzählung befasst sich von diesem Zeitpunkt an mit den einzelnen Familienmitgliedern, ihren individuellen Gedanken und ihrer Interaktion untereinander. Je nach Konstellation werden verschiedene Verhaltensweisen aufgezeigt, wobei das Zusammenleben mit Gregor im Vordergrund steht. Allerdings werden auch Szenen dargestellt, in welchen dieser nicht direkt am Geschehen beteiligt ist. Beispielsweise als Greta und ihre Mutter versuchen Gregors Zimmer von allen Möbeln zu befreien. Im Verlauf der Geschichte verändern sich Figuren, sie entwickeln sich. Ihre wahren Motive kommen zum Vorschein und am Ende wird nochmals unterstrichen, wie schwierig die Gesamtsituation ist … oder war.
In „Die Verwandlung“ erzählt Franz Kafka eine an sich bereits sehr abstrakte Geschichte. Durch deren Veranschaulichung in Form einer Grafik Novel wird dieser Aspekt jedoch nochmals deutlich aufgewertet. Nicht nur das, die grafischen Elemente lassen das Werk als Gesamtes sehr viel lebhafter und greifbarer wirken. Somit schafft es die Neuauflage gleichzeitig die Absurdität der Erzählung besser aufzuzeigen, die surreale Welt allerdings näher an den Leser zu bringen und sie somit leichter vorstellbar zu machen. Auch wenn die Realität, in welcher sich die Ereignisse abspielen, selbstverständlich Fiktion ist, sind die Umstände jedoch nicht völlig aus der Luft gegriffen. Tatsächlich ist die im Buch geschilderte Familiensituation über weite Strecken vom Verhältnis Kafkas zu seinen eigenen Angehörigen inspiriert. Am deutlichsten zeigt sich dies an der Verwandlung des Protagonisten in einen Käfer, genauer gesagt, im Umgang von Gregors Vater mit der Transformation. Er beschimpft die Insektenversion seines Sohnes mehrfach als Ungeziefer. Kakas Vater pflegte es ebenfalls, diesen Ausdruck im abwertenden Sinne zu nutzen. Ähnliche Verwendung fand in dessen Wortschatz der Begriff Schmarotzer. Durch diesen autobiographischen Aspekt des Buches präsentiert sich dessen Absurdität als von wahren Umständen inspiriertes Element.
Hier mehr zu den Parallelen zu Kafkas Leben:
https://www.frustfrei-lernen.de/deutsch/die-verwandlung-biografischer-hintergrund.html
Auch wenn Gregors physische Menschlichkeit bereits von der ersten Seite an verloren ist, erscheinen seine nachvollziehbaren Wünsche und Motivationen an diversen Stellen im Buch. Seine anhaltenden Gedanken über seine Familie, das Krabbeln in seinem Zimmer als Synonym für das menschliche Hin und Her-Gehen bei Unschlüssigkeit und auch die Sorgen über seiner Mutter bei deren Ohnmacht, sind nur einige Beispiele. Gleichzeitig wird die Geschichte von Gregors Mutter, Vater und Schwester erzählt. Seine Mutter zeigt sich als fürsorgliche Person, welcher das Wohl ihres Sohnes am Herzen liegt. Sie kann sich allerdings nicht mit Gregors Zustand abfinden, was sich deutlich am Verlieren ihres Bewusstseins zeigt. Dennoch versucht sie sich zu überwinden und ihrem Sohn zu helfen. Bei einer turbulenten Diskussion innerhalb der Familie, setzt sie sich außerdem für Gregor ein. Seinem Vater hingegen fällt es deutlich leichter loszulassen. Seine Sorgen beziehen sich weniger auf den Zustand und die Gesundheit seines Sohnes, viel mehr auf die Geldreserven der Familie. Er gibt zwar an, Gregors schwierige Lage anzuerkennen und zu bedauern, allerdings versucht er im Anschluss seiner Frau zu erklären, dass die Belastung der Familie durch Gregor zu strak geworden sei und er deshalb ausgeschlossen werden solle. Somit scheint das Mitgefühl gegenüber seinem Sohn nicht emotionaler Natur zu sein, stattdessen erläutert er auf diese Weise seine eigentliche Gefühlslage. Gregors Schwester Grete durchlebt die wohl größte Veränderung im Buch. Während diverse Stellen im Buch darauf hindeuten, dass sie vor der Mutation ihres Bruders ein sorgloses und unbeschwertes Leben geführt hatte, zwingt sie Gregors Verwandlung dazu, Verantwortung zu übernehmen und sich zu überwinden. Dabei macht sie den Schritt von einem, in den Augen ihrer Eltern, nutzlosen Mädchen zu einer gewissenhaften Frau. Für Gregor selbst wird sie dadurch zu einem Rückgrat, welchem er besonders zu vertrauen scheint. Da sie sich vergleichbar anstrengenden Umständen wie ihr Bruder zuvor stellen muss, spricht sie sich letztendlich dennoch gegen Gregor aus, wobei ihr die Entscheidung, anders als dem Vater, tatsächlich schwer gefallen zu sein scheint. Die schwierige Lage stellt die Familie vor eine große Hürde, dabei zeigt sich eine Parallele zur heutigen Zeit.
Gregor nimmt nach seiner Verwandlung die Rolle des isolierten Sohnes ein. Er lebt abgeschottet vom Rest seiner Angehörigen, nur selten bekommt er sie zu Gesicht. Zu Beginn des Buches ist dies nur bei der Lieferung seiner Mahlzeiten durch Grete der Fall, später darf er seine Familie aus einiger Entfernung beim Essen beobachten. Nachdem ich selbst drei Wochen in häuslicher bzw. „zimmerlicher“ Quarantäne verbracht habe, hat das Buch auf mich sicherlich nochmals nachvollziehbarer gewirkt, als wenn ich diese Isolationsperiode nicht durchlebt hätte. Dazu tragen vor allem grundsätzliche Ähnlichkeiten zur Geschichte bei. In erster Linie handelt es sich dabei natürlich um die Isolation und das verständliche, allerdings dennoch schwerwiegende Gefühl der Ablehnung innerhalb der eigenen Familie. Die Verwandlung präsentiert sich somit als perfektes Exempel dafür, dass belletristische Literatur ihre Aktualität stehts beibehält und kann als Denkanstoß für das eigene Verhalten während der Pandemie interpretiert werden.
Die Atmosphäre des Buches wird von dessen Umsetzung als Graphic Novel maßgeblich beeinflusst. Während der textliche Inhalt an sich vor allem einen für den Leser seltsamen Sachverhalt schildert, geben die Zeichnungen diesem eine (düstere) Richtung. Der schwarze Farbton verleiht der Erzählung erst ihren tragischen Ausdruck. Die Darstellung von Gregors Insektengestalt sowie der Mimik und Gestik jener, die sein Abbild erblicken, unterstreicht darüber hinaus die ihm entgegeggebrachte Abneigung. Diese wird ebenfalls von der dunklen Farbe, sowie den dadurch blass erscheinenden Gesichtern stark zum Ausdruck gebracht.
Franz Kafkas „Verwandlung“ hat mich besonders aufgrund seiner Vergleichbarkeit zur momentanen Lage beeindruckt. Die Version der Erzählung als Graphic Novel sorgt für eine dramatischere und dadurch emotionalere Wahrnehmung der Geschehnisse. Aufgrund dieser ästhetischen Aufwertung und der kurzen Lesedauer durch die knappen Dia- und Monologe eignet sich das Buch dadurch gut für weniger geübte Leser. Aufgrund des aktuellen Bezugs können ihm aber auch Lesebegeisterte etwas abgewinnen.
Informationen:
https://www.frustfrei-lernen.de/deutsch/die-verwandlung-biografischer-hintergrund.html
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